17
Dez
2006

Springen

"Von wegen Selbstmord ist ganz schön feige!"
Was hat sie da gesagt? Ich kenne Lisa eigentlich gar nicht.Erst seit ein paar Stunden. Wir haben uns im Zug getroffen. Das Abteil war brechend voll und ich war einfach zu müde um die 6 Stunden Fahrt im Stehen durchhalten zu können. Wir wechselten uns ab mit dem Sitzplatz, den Sie ergattert hatte.
Ich meine wessen Idee war das denn hier bitte? Ich könnte gut drauf verzichten hier in der Kälte auf dem zugigen Dach zu stehen. Aber wir haben es so besprochen.
"Wer springt zuerst?" Lisa beugt sich zu mir hinüber. Es fängt an zu schneien. Ich mag Schnee. Zuhause, also das heißt da wo früher mein zuhause war, wurde immer heißer Kakao aufgesetzt, sobald es anfing zu schneien. "Falls dem Papa kalt ist, wenn er nach Hause kommt!" kommentierte meine Mutter dann immer. Mein Vater kam nie nach Hause. Wir hatten ihn seit meinem 3. Lebensjahr nicht mehr gesehen. Einfach weggegangen war er. Meine Mutter glaubt wohl heute noch er käme eines Tages zurück.
"Wollen wir nicht lieber warten bis es aufgehört hat zu schneien?"
"Ich dachte wir sind uns einig.Was soll dieses rumgerede und zeit geschinde?Du musst zuerst. Ansonsten überlegst du es dir sowieso nur anders."
"Ob es sehr weh tut?"
"Na, was denkst du denn?"
"Weiß nicht. Ich war mir wirklich sicher. Ich meine ich habe das wirklich so gemeint vorhin. Es geht nicht mehr. Aber ich habe Angst. Ich habe Angst, dass es weh tut."
"Tut es jetzt nicht auch weh?"
Lisa hat Recht. Mein Leben tut weh.Woher nimmt sie nur diese bittere Entschlossenheit?Ich zweifle immer noch, ob ich es hier beenden will.
"Wollen wir nicht wirklich warten bis es aufgehört hat zu schneien und dann zusammen ... Da hinten ist ein Vorsprung da können wir warten."
Lisa grummelt vor sich hin.
"Ok, aber nur wenn wir dann gemeinsam springen."

Hier unter dem Vorsprung ist es eigentlich richtig gemütlich. Es ist um einiges wärmer als da vorn auf dem Sims.
Ich breite meinen Schlafsack aus, der in meinem Rucksack auf seinen Einsatz gewartet hat.
"Willst du hier übernachten?" Lisa lässt sich direkt auf den Boden fallen.
"Du holst dir noch irgendwas weg!" höre ich mich sagen.
"Sehr witzig!"
Sie hat Recht. Eine Erkältung im Vergleich zu dem was vor uns liegt erscheint auch mir lächerlich. Trotzdem ist mir kalt.
"Möchtest du mit unter die Decke?"
Lisa rutscht zu mir herüber und wir wickeln uns in die Decke.

Der Schnee wird stärker und die Schneeflocken wirbeln um uns herum.
Ich beobachte die Schneeflocken. Sie sind so leicht und wirken zufrieden. Ihr Job besteht darin zu gefrieren und auf den Boden zu fallen. Mehr nicht. Eventuell werden sie noch zu einem Schneemann. Aber dieses Glück trifft nur wenige Schneeflocken.
"Magst du den Schnee?"
Lisa starrt mich an. Während des ganzen Zugfahrt hatte sie nur ein paar Sätze gesagt.
Ich weiß eigentlich gar nichts über sie mit Ausnahme ihres Namens und Ihres Vorhabens.
Wir schweigen. Anscheinend möchte Sie nicht reden.
So vergehen sicherlich eine Stunde oder länger.
"Lisa?"
"Hm..?"
"Warum...Warum willst du das tun?"
"Warum willst du das tun?Was ist denn das für eine Frage?Ich hab schon meine Gründe! Wir haben eine Abmachung!"
Ich weiß nicht was ich dazu sagen soll. Ein Zittern durchfährt mich und ich beginne einfach zu erzählen:
"Meine Mutter war schwer krank. Sie hatte Krebs und eine Menge gelitten bevor sie erlöst wurde. Sie war so dünn und konnte nicht mehr essen oder reden. Sie hat immer nur davon gesprochen was wir alles tun wenn sie wieder gesund ist. Gesund!!! Hah, was für eine komische Hoffnung. Sie wusste ganz genau, dass sie nicht mehr gesund wird. Nun bin ich allein. Vor zwei Tagen hat sie mich gebeten ihr Wasser zu holen und als ich wieder in ihr Zimmer kam da hat sie die Augen nicht mehr aufgemacht. Einfach im Stich gelassen hat sie mich." Tränen rollen über meine Wangen. Ich versuche sie zu verstecken. Lisa soll sie nicht sehen.

Wie kamen wir eigentlich hier auf das Dach?
Wir tauschten die Plätze im Zug und sie fragte mich, ob ich traurig sei. Ich sähe sehr traurig aus. Sie sei auch traurig darum fahre sie in diesem Zug mit. Sie habe vor das traurigsein zu beenden. Man müsse sich vom Leben nicht alles gefallen lassen und ob ich nicht mitkommen wolle. Alleine wäre das eh doof und zu wenig ein Zeichen. Es habe nicht die Wirkung, die es haben sollte. Ich begriff gar nicht wirklich was sie da sagte aber ich wollte einfach ja sagen. Also sagte ich ja. Na klar komm ich mit.
"Egal wohin?" "Egal wohin!" antwortete ich.
Dann wechselten wir kein Wort mehr miteinander. Die ganze Zugfahrt über hörte ich nur noch das Poltern der Zugreifen, die über die Schienen knallten.

" Ich hab kein Bock mehr zu warten. Ich geh jetzt!" Lisa sprang auf. " Wo willst du denn hin?"fragte ich naiv.
Sie zeigte auf den Rand des Daches.Ich nickte. Wir nahmen uns an den Händen und gingen zu der eben gezeigten Stelle.
" Warte! Bevor ich das tue muss ich wissen, warum du das tust.Ich meine du weißt warum ich nicht mehr weitermachen kann. Ich habe niemandem zu dem ich gehen kann. Ich bin ganz allein und habe nichtmal mehr eine Wohnung oder Geld! Aber du? Deine Klamotten sind alles Marken, ich habe vorhin geschaut. In deiner Börse sind noch mindestens 500 Euro und ein auf dem Foto da sieht es gemütlich aus. Warum willst du da nicht wieder hin?"
Lisa starrte mich an. Ihre Augen waren leer und eine Träne drückte sich aus ihren Augenwinkeln.
" Ich habe nichts mehr zu verlieren!"
Sie schüttelte meine Hand ab und lief ein Stück weiter auf den Sims zu.

" Aber Lisa! Du bist so hübsch und intelligent. Du kannst supertoll zeichnen das hab ich auf dem Block in deinem Rucksack gesehen. Du kannst alles werden. Es stehen dir alle Türen offen"

Lisa weinte nun. Durch die starken Tränen wur ihr zierlicher Körper kräftig geschüttelt. Ihre Schultern bebten.

Plötzlich wusste ich warum ich mitgegangen war. Warum ich in diesen Zug gestiegen war und nicht in eine andere Richtung gefahren war wie ich ursprünglich wollte. Ich sollte sie retten!
Das ist meine Aufgabe. Der Sinn auf den ich gewartet hatte. Das Zeichen.
" Lass uns gehen. Was willst du denn damit beweisen? Ich weiß dass du es könntest, weil du alles kannst!"
" Ich kann nicht. Wenn ich jetzt gehe dann bin ich feige. Ich will stark sein! Er hat gesagt ich könne nichts. Ich würde sowieso nichts zu Ende bringen. Nichtmal ein Bild würde ich zu Ende malen. Er hat Recht. Verstehst du das Nina? Er hat völlig Recht. Ich bin zu feige zu feige für alles. Zu feige zum Leben und zu feige zum sterben. Weißt du wo wir hier sind?"
Ihre Augen fixierten mich und forderten eine Antwort. Ich schüttelte vorsichtig den Kopf.
"Nein? Du weißt es nicht? Aber ich. Dies ist die Kunstschule bei der ich mich beworben habe. Den theoretischen Test hab ich ohne Probleme bestanden. Mit einer EINS , einer EINS. Nur das Bild, dass ich abgeben sollte das bringe ich nicht fertig. Es geht einfach nicht. Es ist nicht gut genug. Nun ist die Frist verstrichen und sie haben mir geschrieben ich könne es ja nächstes Jahr erneut versuchen.Nächstes Jahr! Ich hab sie angebettelt ich könnes es schnellstmöglich nachliefern. Aber sie wollten davon nichts hören. Ich bin echt nicht gut genug. Für nichts."

"Lass uns reden, Lisa. Ich will einen Kakao und ein dickes Stück Sahne- oder Schokotorte. Ich will nicht sterben ohne nochmal meinen Lieblingskuchen gegessen zu haben! Ich will nochmal tanzen gehen und mich so richtig betrinken. Ich will noch einmal Weihnachten erleben, ich will einen Weihnachtsbaum sehen und riechen.Komm." Ich streckte ihr meine Hand hin.
"Bitte!"

" Ich liebe Schokotorte."

" Wir treffen eine neue Abmachung. Erstmal gehen wir nun runter und schlagen uns die Bäuche voll. Dann gehen wir tanzen und haben Spaß. In zwei Tagen ist Weihnachten vorbei. Bis dahin geben wir uns noch. Von deinem Geld holen wir uns einen kleinen Baum und übernachten in dem Hotel da drüben. Wir feiern WEihnachten und in 2 Tagen kommen wir wieder her!"
Ich spuckte auf meine Hand und streckte sie ihr hin."Abgemacht?"

Sie schaute auf meine Hand und dann auf Ihre. Zögernd erhob sie diese. Dann spuckte Sie auf Ihre Handinnenfläche und nahm meine Hand. Die Abmachung war damit besiegelt.

Wir gingen nie wieder auf dieses Dach. Wir zogen in eine gemeinsame kleine Wohnung und lebten dort ein paar Jahre zusammen.
Lisa ist heute eine bekannte Malerin und lebt in einem riesigen Haus.
Man kann alles schaffen was man will. Und manchmal ist der Weg dahin einfach sehr steinig und man kommt manches Mal vom Weg ab. Wichtig ist, dass man immer zurück kann. Nichts ist unmöglich!
Selbstmord ist feige!
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